Theater

DIE MÖWE

Eine lakonische Soap-Opera
Anton Čechov // Thomas Brasch

Premiere: 12. Mai 06

Die Möwe.jpgEs wird viel passieren: Medwedenko liebt Mascha, Mascha liebt Konstantin, Konstantin liebt Nina, doch Nina liebt Trigorin, der mit Irina zusammen ist, die niemanden liebt als sich selbst. Ein Reigen aus unerwiderten Sehnsüchten und nicht gelebten Leben, und zugleich: die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, der ewige Teufelskreis zwischen den eigenen Wünschen und der fehlenden Kraft zu ihrer Verwirklichung. Alles verharrt in einer zähen Lethargie: „Landleben – Langlegen...“

Eine Clique Mittdreissiger trifft sich in einem Theater, um ein Stück zu sehen, das Konstantin, ein ehrgeiziger Jungdramatiker verfasst hat. Die Hauptrolle spielt Nina, Konstantins große Liebe. Doch das Stück fällt durch und Nina wirft sich dem bereits etablierten Schriftsteller Trigorin an den Hals. Zwei Jahre später trifft man sich wieder, und „es ist viel passiert“: Konstantin hat einen Selbst-mordversuch unternommen, Nina hatte ein Kind mit Trigorin, das Kind starb, Trigorin verließ sie und kehrte zu der bekannten Schauspielerin Irina zurück, die immer noch alle nervt mit ihrem Gel-tungsdrang und ihrer durchschaubaren Angst vor dem Erlöschen ihres Sterns. Andererseits: es ist nichts passiert, alle rennen ihren Wünschen hinterher wie immer, alle bleiben wo und wie sie sind. Einzig Nina hat sich aus ihrem eigenen Teufelskreis befreit und einen Schritt nach vorn gewagt: sie ist eine Schauspielerin geworden, keine gute, aber immerhin hat sie ihren Traum realisiert und ihre Lektion gelernt: „Das wichtigste für jeden Menschen, ob er mit Kunst zu tun hat oder nicht, ist, dass er lernt, auszuhalten, was ihm geschieht.“ Oder ist nur ihr Teufelskreis größer geworden, in dem auch sie sich um sich selber dreht?

Die Inszenierung stellt diesen Teufelskreis in den Vordergrund und fragt nach den Bedingungen und Voraussetzungen für die moderne Biedermeierzeit, in der immer mehr Menschen auf der Flucht vor ihren eigenen Wünschen sind, auf der Flucht vor dem eigenen Selbst-Bewußtsein. Diese Fluchten nehmen unterschiedlichste Formen an: Flucht in neue Überwachungs- und Sicher-heitstechniken, Flucht in immer ausgedehntere Party-Exzesse, Flucht in die neue Schwemme von Herzschmerz-Vorabendserien und Telenovelas, in die virtuelle Welt des Internet – Hauptsache Ablenkung vor existentiellen Fragen. Die diversen Fluchten vor der bewussten Auseinandersetzung mit dem ei¬genen Selbst zusammen mit der melancholischen Komik machen diesen Text zu einem idealen Instrument, um die Vogel-Strauß-Strategie der neuen Biedermeier¬zeit sicht¬bar zu machen. Es entwickelt sich ein melancholischer Reigen in der Ästhetik der Schwarz-Weiß-Filme der Zwanziger Jahre, inklusive musikalischer Begleitung live am Klavier.

Buch
Anton Čechov // Thomas Brasch
Regie
Torge Kübler
Mit
Michaela Conrad, Michael Haase, Johannes Kiem, Mario Krichbaum, Sandra Lühr, Katharina Poensgen, Paddy Twinem
Bühne
Judith Philipp